Transparente Psychiatrie

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Nachbesprechungen

Nachbesprechungen von Zwangsmaßnahmen

Nach einer Zwangsmaßnahme steht für viele Patient*innen wie auch für das Behandlungsteam die gemeinsame Aufarbeitung im Mittelpunkt. Eine strukturierte und moderierte Nachbesprechung trägt dazu bei, belastende Situationen zu verstehen, Vertrauen wieder aufzubauen und zukünftige Krisen besser zu bewältigen und Zwangsmaßnahmen im Idealfall ganz zu vermeiden. Damit diese Gespräche ihren Zweck erfüllen, braucht es klare Qualitätsstandards. Eine Nachbesprechung sollte moderiert und strukturiert durchgeführt werden.

Download: Nachbesprechungsformular

Wann findet das Gespräch statt?

Eine Nachbesprechung beruht immer auf Freiwilligkeit, sie soll möglichst frühzeitig angeboten werden, sobald ein erstes geeignetes Gespräch möglich ist. Wird das Angebot zunächst abgelehnt oder erscheint der Moment ungünstig, kann es später erneut aufgegriffen werden. Patient*innen selbst entscheiden, wann sie bereit für das Gespräch sind. Falls im Gespräch ersichtlich wird, das der Zeitpunkt aufgrund psychiatrischer Symptome zu früh gewählt wurde, soll im späteren Zeitabstand ein weiterer Termin angeboten werden.

Wie spreche ich Patient*innen auf eine Nachbesprechung an?

Beim Ansprechen einer Patientin auf eine mögliche Nachbesprechung ist Sensibilität entscheidend. Das Fachpersonal sollte sich bewusst sein, dass ein solches Gesprächsangebot zunächst verunsichern oder sogar erschrecken kann. Viele Betroffene wissen in diesem Moment möglicherweise nicht genau, was von ihnen erwartet wird. Zusätzlich können Gefühle wie Angst, Scham oder ein entstandener Vertrauensverlust dazu führen, dass Patientinnen zunächst ablehnend reagieren.

Umso wichtiger ist es, klar zu vermitteln, worum es bei einer Nachbesprechung geht. Sie schafft Raum, um offene Fragen zu klären, Wissenslücken zu schließen und das Erlebte nachvollziehbar zu machen. Die betroffene Person erhält die Möglichkeit, ihre Sichtweise einzubringen, Fragen zu stellen und eigene Gedanken zu äußern. Zugleich ist es auch für das Team wertvoll, aus diesen Rückmeldungen zu lernen und herauszufinden, wie ähnliche Situationen in Zukunft bestmöglich verhindert oder anders begleitet werden können.

Ein transparentes, wertschätzendes Gesprächsangebot ist daher der erste Schritt, um Vertrauen aufzubauen und eine konstruktive Nachbesprechung zu ermöglichen.


Wie lange dauert eine Nachbesprechung?

Die Dauer ist flexibel und richtet sich nach dem individuellen Gesprächsverlauf. Nehmen Sie sich dafür ausreichend Zeit, denn es handelt sich um eine der eingriffsintensivsten Maßnahmen in der psychiatrischen Versorgung und sie darf nicht relativiert oder verharmlost werden. In der Regel sollten etwa 30 bis 60 Minuten eingeplant werden.

Wer nimmt teil?

  • Patient*in
  • eine Pflegefachperson oder Arzt bzw. Ärztin (die an der Maßnahme beteiligt waren)
  • eine moderierenden Person (Teammitglied oder Fachpersonal einer anderen Station welches nicht an der Zwangsmaßnahme beteiligt war)
  • auf Wunsch der/des Patient*in kann eine Vertrauensperson teilnehmen, z. B. Angehörige oder jemand aus dem Behandlungsteam, Genesungsbegleiter*in, etc.

Wo sollte das Gespräch stattfinden?

Da Zwangsmaßnahmen für Patient*innen hochbelastend oder traumatisierend sein können, braucht es für die Nachbesprechung einen ruhigen und neutralen Rahmen. Keinesfalls sollte sie in jenem Zimmer stattfinden, in dem die Zwangsmaßnahem durchgeführt wurde. Eine Nachbesprechung am Ort des Geschehens wirkt für viele Patientinnen befremdlich, kann die Belastung eventuell sogar verstärken und entspricht nicht einer professionellen psychiatrischen Praxis. Ebenso sollte eine Nachbesprechung nicht während einer Visite oder in belebten Stationsbereichen stattfinden, insbesondere dann nicht, wenn dazu zahlreiche Personen wie Ärztepersonal, Pflegefachpersonen, Psychologinnen und Praktikant*innen anwesend sind. Ein solches Umfeld ist hinderlich, um über sensible Themen zu sprechen.

Nehmen Sie sich daher bewusst Zeit und wählen Sie für die Nachbesprechung einen schönen und ungestörten Ort. Falls die vorhandenen Räume ihrer Einrichtung eher nüchtern oder klinisch kühl wirken, lassen sie sich mit einfachen Mitteln wie Zimmerpflanzen aufwerten. Wenn Ihre Psychiatrie über einen Gartenbereich verfügt, kann auch dort ein geschützter Sitzbereich eine geeignete Umgebung bieten. Es handelt sich um ein ernstzunehmendes Thema, das einen würdevollen und ruhigen Rahmen verdient.

Die Rolle der Moderation

Die Moderation der Nachbesprechung übernimmt ein Teammitglied, das nicht direkt an der Zwangsmaßnahme beteiligt war. Die moderierende Person sorgt für eine wertschätzende Gesprächsatmosphäre und achtet darauf, dass alle Beteiligten ihre Gedanken in Ruhe äußern können, ohne unterbrochen zu werden. Die Moderatorin bzw. der Moderator bleibt neutral und vermeidet es, in der Wir-Form zu sprechen oder stellvertretend für das Fachpersonal Erklärungen abzugeben. Eine Wir-Form kann bei Patient*innen ein Gefühl von Ohnmacht oder Übermacht auslösen, im Sinne von „Jetzt reden plötzlich alle gegen mich“. Häufig entsteht die Tendenz, für andere sprechen zu wollen, doch die Moderation soll keine Inhalte vorwegnehmen oder deuten. Diese Aufgabe erfordert Übung und Sensibilität, ist jedoch gut erlernbar.

Dasselbe gilt für die Pflegefachperson sowie für die Ärztin oder der Arzt, die/der an der Zwangsmaßnahme beteiligt waren und an der Nachbesprechung teilnimmt. Auch sie sollten konsequent in der Ich-Form sprechen und ihre eigenen Wahrnehmungen transparent darstellen. Beispiele hierfür sind: „Ich hatte in dieser Situation Angst um Sie, aber auch um mich“ oder „Ich habe daraufhin meine Kolleg*innen dazu gerufen, die aus meiner Sicht auch besorgt wirkten“.

Die moderierende Person hält die relevanten Inhalte strukturiert im Nachbesprechungsformular fest. Diese Dokumentation ist nicht nur eine wertvolle Grundlage für die Erstellung oder Anpassung von Krisenplänen und Behandlungsvereinbarungen, sondern kann, in anonymisierter Form, auch für wissenschaftliche Auswertungen genutzt werden. So lassen sich Muster erkennen, Bereiche mit guter Praxis sichtbar machen und Fortbildungsbedarfe für das Team ableiten.

Ein Nachbesprechungsformular mit Leitfragen dient der moderierenden Person als Orientierung, dennoch soll das Gespräch einen natürlichen und offenen Gesprächscharakter aufweisen. Ziel ist ein respektvoller Austausch, der beiden Sichtweisen Raum gibt, offene Fragen klärt und gemeinsam Wege aufzeigt, wie ähnliche Situationen künftig verhindert oder besser begleitet werden können.

Download: Nachbesprechungsformular

1. Einstieg in das Gespräch

Zu Beginn begrüßt die moderierende Person alle Anwesenden, erklärt Ziel und Zweck der Nachbesprechung und stellt die Teilnehmer*innen sowie sich selbst vor

Wichtig ist zu betonen, dass es sich bei Nachbesprechung darum geht

  • offene Fragen zu klären
  • Sichtweisen auszutauschen
  • Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen
  • gemeinsame Lernmöglichkeiten zu erkennen

2. Erste Einstiegsfrage an die Patient*in

Ein guter Gesprächsbeginn ist eine offene Frage an die betroffene Person, zum Beispiel:

  • „Wie haben Sie die Situation erlebt?“
  • „Woran erinnern Sie sich, wie es zur Maßnahme gekommen ist?“

Dadurch entsteht häufig bereits eine ausführliche Erzählung, die viele nachfolgenden Fragen von selbst beantwortet.

3. Vertiefende Fragen an die Patient*in

Im Anschluss können gezielt Fragen gestellt werden, um die Perspektive der Patient*in besser zu verstehen, etwa:

  • „Was hätte Ihrer Meinung nach helfen können, die Situation zu verhindern?“
  • „Was hätte das Personal in diesem Moment anders machen können?“
  • „Was wäre während der Zwangsmaßnahme hilfreich für Sie gewesen?“
  • „Was hätte geholfen die Zwangsmaßnahme früher zu beenden?“

Hier können vielfältige Hinweise entstehen, z. B. der Wunsch nach einer konstanten Sitzwache, nach einer Decke bei Kälte, nach einem Getränk oder nach leiser Musik, wie sich vertrauen im Sinne von Paktfähigkeit äußert.

Des Weiteren kann gefragt werden, ob die betroffene Person nähere Informationen zum Ablauf möchte. Oftmals werden Patient*innen während Zwangsmaßnahmen sediert was Erinnerungslücken hervorrufen kann.

4. Sichtweise des Fachpersonals

Wenn gewünscht, schildern die beteiligte Pflegefachperson oder die Ärzt*in ihre Perspektive: den Auslösegrund der Zwangsmaßnahme, den Ablauf der Durchführung und die eigenen Gefühle in der Situation. Dabei soll in der Ich-Form gesprochen werden.

Anschließend kann die/der Patient*in gefragt werden

Im Anschluss können gezielt Fragen gestellt werden, um die Perspektive der Patient*in besser zu verstehen, etwa:

  • „Ist diese Entscheidung für Sie nachvollziehbar?“
  • „Können Sie verstehen, dass sich Mitarbeiter*innen bedroht oder unsicher gefühlt haben?“
  • „Können Sie verstehen, dass sich das Personal Sorgen um Sie gemacht hat?

Genauso wertvoll ist die Gegenfrage zum Fachpersonal:

  • „Ist für sie als Fachperson nachvollziehbar, warum Fr. Maier so reagiert hat?“

Dies eröffnet einen Raum für gegenseitiges Verständnis und Reflexionsmöglichkeit und zwar ohne den Anspruch, dass Patient*innen die Zwangsmaßnahme im Nachhinein gutheißen oder als unvermeidlich ansehen müssen.

5. Rückblick auf die Zeit nach der Maßnahme

Weitere hilfreiche Fragen sind:

  • „Was wäre nach der Maßnahme für Sie hilfreich gewesen?“
  • „Hätten Sie ein Gespräch, Informationen, Ruhe, eine Rückzugsmöglichkeit, ein Telefonat oder Kontakt zu einer Bezugsperson oder etwas Bestimmtes benötigt?“

Hier entstehen oft konkrete Hinweise für zukünftige Abläufe.

6. Aktuelle Belastung und Unterstützung

Gegen Ende des Gesprächs sollte geklärt werden:

  • „Belastet Sie die Situation aktuell noch?“
  • „Wie zeigt sich diese Belastung?“
  • „Was können wir im Moment für Sie tun?“
  • „Ist eine weitere Zusammenarbeit für Sie möglich und was würden Sie dafür benötigen?“

Dabei sollte betont werden, dass die weitere Zusammenarbeit konstruktiv gestaltet werden soll und welche Rahmenbedingungen dafür hilfreich sind, sowohl aus Sicht der Patient*in als auch von der Fachperson.

7. Ausblick und weitere Schritte

Zum Abschluss können sinnvolle nächste Schritte vereinbart werden, etwa:

  • Erstellung oder Überarbeitung eines Krisenplans / Behandlungsvereinbarung
  • Falls erforderlich Terminfindung für eine weitere Nachbesprechung

Im Zuge dessen ist es sinnvoll, durchgeführte Nachbesprechungen zu dokumentieren und wichtige Inhalte daraus z.B. in der Dienstübergabe weiterzugeben. Sie enthalten oft wichtige Hinweise darauf, wie sich zukünftige Zwangsmaßnahmen bei dieser Person besser vermeiden lassen oder, falls sie dennoch notwendig werden, wie sie schonender gestaltet werden können.


Mehrwert von Nachbesprechungen für Patient*innen und Teams

Abschließend lässt sich festhalten, dass Nachbesprechungen nicht nur für Patient*innen von großer Bedeutung sind, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Teamkultur leisten. Sie ermöglichen Sensibilisierung gegenüber Zwangsmaßnahmen, klären offene Fragen und bieten die Chance, Vertrauen wiederherzustellen. Durch die Perspektiven der Patient*innen erhält das Team wertvolle Hinweise darauf, wie Abläufe wahrgenommen werden und welche Aspekte hilfreich oder belastend waren. Gleichzeitig entsteht ein Raum, in dem offen über Fehler, Bedürfnisse und Verbesserungsmöglichkeiten gesprochen werden kann.
Je stärker Nachbesprechungen als selbstverständlicher Bestandteil des klinischen Alltags verankert sind, desto mehr wächst im Team das Bewusstsein dafür, Zwangsmaßnahmen konsequent zu reduzieren, Alternativen zu stärken und unvermeidbare Eingriffe so schonend wie möglich zu gestalten. Damit leisten Nachbesprechungen einen zentralen Beitrag zu einer modernen, reflektierten und zeitgemäßen psychiatrischen Praxis.

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Autor: Florian Wostry, MSc. Doktoratstudent Pflegewissenschaft Universität Wien. Gastdozent, Beratung & Changemanagement für psychiatrische Settings.

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Weiterführende Hilfestellungen zum Thema Nachbesprechungen:

Rüegg, S., & Brändli, H. (2025). Fortbildung: Erleben von Zwang und Verminderung von dessen Auswirkungen. https://www.zwang-los.com/

Mahler, L., Wullschleger, A., & Oster, A. (2022). Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen: Ein Praxisleitfaden (1. Aufl.). Psychiatrie Verlag.

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. (2018). S3-Leitlinie: Verhinderung von Zwang – Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/154528053e2d1464d9788c0b2d298ee4a9d1cca3/S3%20LL%20Verhinderung%20von%20Zwang%20LANG+LITERATUR%20FINAL%2010.9.2018.pdf


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